Es staubt im Gegenlicht. Die Bauarbeiter stehen auf dem Gerüst und stemmen, Stein für Stein, ein kleines, neues Paris in die Höhe. Dass sich hinter den Sandsteinplatten und den maschinell gefrästen Kapitellen eine Stahlbetonkonstruktion mit Hochlochziegelwand verbirgt, ist eine kunstgeschichtliche Unschärfe, die hier niemanden zu kümmern braucht. Das neue Evlari-Palais in der vorerst noch namenlosen Straße ist ein erster Vorbote des 50.000-Einwohner-Stadtteils Baku White City. Aus Black mach White

 

 

"Cities have never been growing so quick" lautet der Slogan der weißen Stadt, die auf dem Gelände der ehemaligen Baku Black City aus dem Erdboden gestampft wird. Und tatsächlich ist die Geschwindigkeit, mit der man hier Stadt zu bauen gedenkt, nicht zu übertreffen: Wo seit 1860 fast 150 Jahre lang Erdöl gelagert und raffiniert wurde, sollen schon bald glückliche Menschen mit Gucci-Clutch, vollen Einkaufstaschen und Fotoapparat durch den Großstadtdschungel schreiten. So versprechen es zumindest die Visualisierungen der Azerbaijan Development Company (ADEC), die das ambitionierte Stadtquartier auf Geheiß von Präsident Ilham Aliyev aus der Taufe hebt.

 

 

"Wissen Sie, die Qara Seher (Black City, Anm.) ist ein Stück Geschichte dieser Stadt, auf die eigentlich niemand so richtig stolz ist", erklärt Fuad Verdiyev, Head of Development bei ADEC, im Gespräch mit dem STANDARD. "Natürlich wurde hier große aserbaidschanische Geschichte geschrieben, denn schließlich verdanken wir dem Erdöl unseren Reichtum, aber in einer modernen, weltoffenen Stadt des 21. Jahrhunderts ist dafür kein Platz mehr."

 

 

"Europaspiele" auf asiatischem Boden

 

 

Stolz steht Verdiyev vor dem zehn mal zehn Meter großen Stadtmodell im Erdgeschoß des provisorischen Bürohauses. Das richtige ADEC-Headquarter, ein weißes, futuristisches Ei mit 13 Stockwerken, befindet sich auf dem Grundstück nebenan. Der Rohbau ist bereits abgeschlossen. Der Kontrast zu den benachbarten Pariser Palais im Stile Baron Haussmanns könnte dramatischer nicht sein.

 

 

"Bald werden wir übersiedeln und das Wachsen der Stadt dann vom letzten Stockwerk aus kontrollieren. Und wie Sie sehen, bauen wir sehr schnell." Bis Sommer nächsten Jahres soll ein Teil der blitzblank polierten White City fertiggestellt sein. Dann nämlich finden in Baku die Europaspiele 2015 statt. Das neu erfundene Sportevent, das kurioserweise auf asiatischem Boden stattfindet, soll darüber hinwegtrösten, dass Aserbaidschan mit seiner Bewerbung für die Olympischen Spiele 2016 zugunsten von Rio de Janeiro scheiterte.

 

 

Stadtplanung? Fehlanzeige

 

 

"Aber natürlich schaffen wir das!" Verdiyev duldet keine Zweifel. Die juristischen Rahmenbedingungen helfen der Geschwindigkeit auf die Sprünge. Die Baku White City, ein Entwurf des Londoner Stadtplanungsbüros Atkins, wurde direkt beauftragt und wird in Großbritannien unter Zuhilfenahme von F+A Architects und Großmeister Norman Foster generalgeplant. Wettbewerb? Fehlanzeige. Umweltverträglichkeitsprüfungen? Fehlanzeige. Langfristiges Grünraum- und Verkehrskonzept? Fehlanzeige.

 

 

"Seien Sie doch bitte nicht so pessimistisch! Wir wissen genau, was wir tun." Einst erstreckten sich die Öl- und Raffineriefelder über 220 Hektar. Im Jahr 2000 wurde das einst schwarze Land umgewidmet, 2007 schließlich startete die Dekontaminierung des Bodens. Je nach Kontaminationsgrad wurde der Boden bis zu einer Tiefe von drei bis sieben Metern abgegraben und außer Stadt gebracht. Wohin, ist unbekannt. Das wisse er nämlich nicht so genau, meint ADEC-Chef Fuad Verdiyev. Fest steht jedoch, dass die White City schon in wenigen Jahren ein pulsierendes Zentrum sein werde.

 

 

Ausschließlich Eigentumswohnungen

 

 

18.000 Wohnungen und 48.000 Arbeitsplätze, diverse Hotels, Einkaufsboulevards, ein Riesenrad, eine Konzerthalle und die mit 400.000 Quadratmetern größte Shoppingmall der gesamten kaspischen Region sind hier geplant. Dass die Wohnungen ohne Haustechnik, also ohne Heizung und ohne Kühlung übergeben werden, sei ein "nicht so interessantes Detail am Rande, über das Sie nicht zu schreiben brauchen", versichert Verdiyev. "Schließlich können die Bewohner die Haustechnik individuell nachrüsten. Platz für Heiz- und Kühlgeräte ist in jeder Wohnung in Form eines kleinen hofseitigen Balkons geplant." Ein neuer Stadtteil mit 18.000 Heizkesseln an der Fassade? In Baku kein Problem.

 

 

Nicht nur die ökologische, auch die soziale Nachhaltigkeit wird in der White City großgeschrieben, denn schließlich plane man eine "durchmischte Stadt für jedermann". Wie sich dieses überaus ambitionierte Ziel mit der Tatsache verträgt, dass die 18.000 Neubauwohnungen trotz traditionell ausgeprägter Mietkultur in Baku ausschließlich in Eigentum auf den Markt gebracht werden und die Rohbau-Kaufpreise bei 1200 Manat (circa 1100 Euro) pro Quadratmeter starten, bleibt bei diesem Exklusivtermin eine ebenso unbeantwortete Frage wie alle anderen auch.

 

 

"Darum kümmern wir uns nicht"

 

 

Wann sollen denn die Wassertaxis und die Straßenbahnlinien errichtet werden, die man hier im Modell sieht? "Das ist nur ein Vorschlag von uns. Darum kümmern wir uns aber nicht. Wir kümmern uns nur um die Bebauung. Die gesamte Infrastruktur und die Planung des öffentlichen Verkehrs ist nämlich Aufgabe der Stadtverwaltung, auf die wir aber leider keinerlei Einfluss haben."

 

 

Wie viele Investoren am Bau der neuen Weißstadt beteiligt sind, wird geheim gehalten. Wie viel Prozent des neuen Areals bereits finanziert sind, könne man nicht so genau sagen. Und wie groß das Gesamtinvestitionsvolumen der Baku White City ist? "Kein Kommentar." Aber so viel sei sicher: "Bitte kommen und investieren Sie! Die ADEC ist ein offenes, transparentes und investorenfreundliches Unternehmen!"

 

 

In Baku ist alles möglich

 

Die nebulose Genese der Baku White City ist kein Einzelfall. Superlative um jeden Preis hat in dieser Stadt Tradition. Für das neue und in Lifestyle-Medien bereits vielfach publizierte Heydar Aliyev Cultural Center von Zaha Hadid musste ein ganzes Wohnviertel planiert werden. Dennoch: Knapp zwei Jahre nach Fertigstellung steht das 60.000-Quadratmeter-Museum fast leer - darüber ist in den Blogs und Hochglanzzeitschriften nichts zu lesen.

 

 

Und die nächsten Megaprojekte stehen bereits in den Startlöchern: Coop Himmelb(l)au etwa plant ein riesengroßes Kongresszentrum sowie das neue Hauptquartier der Central Bank of Azerbaijan (CBA). Und das Wiener Büro Hoffmann+Janz, das an der Küstenpromenade bereits das metaphorisch etwas plump geratene, nicht sonderlich subtile Teppichmuseum in Form einer 120 Meter langen, liegenden Teppichrolle baute, arbeitet bereits an einem Hochhaus, an einem Wasserpavillon im Kaspischen Meer sowie an einem neuen Sportzentrum, das im April eröffnet werden soll.

 

 

"Letztentscheidung hat immer der Präsident"

 

 

"In Baku wird mit anderen kulturellen Maßstäben gemessen als bei uns", erklärt Teppichrollen-Architekt Franz Janz auf Anfrage des STANDARD. "In gewisser Weise ist in Aserbaidschan alles viel einfacher, denn die letzte Entscheidung hat immer der Präsident." Und Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au meint: "Die neuen Bauten und Stadterweiterungsprojekte schaden der Stadt mehr, als sie ihr helfen, denn sie mögen für sich allein eine gewisse Qualität aufweisen, aber ein zusammenhängender, städtebaulicher Überbau ist nicht zu erkennen."

 

 

Und das ist sehr schade, denn Baku mit seiner Unesco-geschützten Altstadt, seinen vielen Fußgängerzonen und seinen in den letzten Jahren sehr aufwändig historisierten Boulevards ist nicht nur eine sehr schöne, sondern auch gut funktionierende und vielfach unterschätzte Stadt. Vom einzigartigen Ambiente der Drei-Millionen-Metropole, dem auch die schwarze Ära von Erdöl und Kommunismus nichts anzuhaben schien, ist in der neuen, weißgewaschenen White City nichts zu merken. In der Euphorie hat die Immobilienwirtschaft hier etwas zu viel Bleichmittel beigesetzt.

 

 

Quelle: Wojciech Czaja, DER STANDARD, 22.3.2014